AckerbauGetreidemarkt„Mein Herz kann es nicht begreifen“

„Mein Herz kann es nicht begreifen“

Anna Nazarenko ist Agrarjournalistin und arbeitet für das Magazin AGROEXPERT in der Ukraine.
Quelle: privat

Anmerkung: Da uns mit Anna Nazarenko nicht nur das Interesse an der Landwirtschaft, sondern auch der gemeinsame Arbeitgeber verbindet, haben wir dieses Interview ausnahmsweise in der „Du-Version“ geführt.

Anna, wie geht es dir?

Den Umständen entsprechend gut. Ich lebe, und das ist nicht selbstverständlich, wenn Krieg herrscht.

Das ist eine überraschend positive Antwort für jemanden, der vor Bomben geflohen ist.

Psychisch ist die Situation natürlich hart. Ich denke jeden Tag an meine Eltern, an meinen Bruder mit seiner Familie und an alle Ukrainer, die noch im Land sind. Sie durchleben derzeit die Hölle. Ich spreche wahrscheinlich für alle Kriegsvertriebenen, wenn ich sage, dass wir so rasch wie möglich wieder in unser Land zurückwollen. Wir sind bereit, unser Land wiederaufzubauen.

Hast du mit Krieg gerechnet?

Mit einem Überfall in solch großem Ausmaß haben in der Ukraine die Wenigsten gerechnet. Wir dachten, dass sich ein etwaiger Einmarsch der russischen Truppen auf die Region um die Städte Donezk und Luhansk im Osten beschränken würde. Dass die Hauptstadt Kyjiw* und viele weitere Städte bombardiert werden, damit habe ich nicht gerechnet. Ich kann es heute noch immer nicht realisieren, was hier passiert. Mein Kopf versteht, dass das Haus und die Straße, in denen ich gewohnt habe, jederzeit von Raketen zerstört werden können, aber mein Herz kann es nicht begreifen.

* Das im Deutschen etablierte „Kiew“ ist eine Transkription der russischen Schreibweise. Mit Blick auf ihre Unabhängigkeit bevorzugt die Ukraine „Kyjiw“, eine Transkription
der ukrainischen Schreibweise. Aus Respekt gegenüber unserer Interviewpartnerin haben wir hier Kyjiw verwendet.

Wie fühlst du dich?

Sehr enttäuscht! Es sind unsere Nachbarn, die uns hier angreifen. Ich kann das Gefühl gar nicht so beschreiben: Enttäuscht, zornig, machtlos… Ich habe viel geweint. Wenn dir dein Nachbar dein Grundstück wegnimmt, deine Freunde tötet und du keine Möglichkeit hast, zu deinem Recht zu kommen, dann würdest du ähnlich fühlen.

AGROEXPERT wurde vor 15 Jahren von Landwirt Agrarmedien gegründet und versorgt die Landwirte in der Ukraine – ähnlich wie LANDWIRT in Österreich – mit unabhängiger Fachinformation.
Quelle: privat

Was hast du am 24. Februar gemacht?

Meine Mutter war zu Besuch bei mir in Kyjiw, als das Telefon um 5 Uhr in der Früh klingelte. Es war mein Bruder. Noch bevor ich abhob, wusste ich, was los war: Die Russen bombardieren die ersten Städte in der Ukraine. Wie ferngesteuert haben wir das Wichtigste gepackt und sind zu meiner Tante gefahren, die 100 Kilometer südlich von Kyjiw wohnt. Wir dachten, dort wären wir sicher und der Angriff sei rasch vorbei. Aber nach und nach stellte sich heraus, dass es auch im Umland von Kyjiw nicht sicher ist. Daher bin ich mit meinem Bruder und seiner Familie weiter Richtung Westen, meine Mutter hat entschieden bei meiner Tante zu bleiben. Mein Vater ist weiterhin in Sumy, einer Stadt im Nordosten der Ukraine. Das ist unsere Heimat, die er nicht verlassen will. So wie uns geht es vielen Ukrainern. Die Eltern bleiben zurück, der Krieg reißt die Familien auseinander.

Vor wenigen Wochen bist du nach Österreich gekommen. Was hat dich letztlich dazu bewogen?

Bei uns in der Ukraine lautet ein Sprichwort: Wenn du nicht helfen kannst, dann störe zumindest nicht. Hier in Österreich kann ich anderen Vertriebenen helfen. Ich übersetze für sie, begleite sie zu Behörden und versuche so, meinem Land zu helfen. Ich bin froh, dass ich hier bin und bin sehr, sehr dankbar. Wir Ukrainer sind wirklich beeindruckt von den Österreichern und ihrer Unterstützung. Da werden Wohnungen, Möbel und vieles mehr zur Verfügung gestellt; dieses Ausmaß der Hilfsbereitschaft ist unglaublich.

Welche Auswirkung hat der Krieg auf die Landwirtschaft in der Ukraine?

Die Landwirte versuchen, die Produktion aufrecht zu erhalten, alleine schon, um die Menschen in der Ukraine zu ernähren. Diese große Verantwortung gegenüber der Bevölkerung ist den Landwirten bewusst. In den nicht-besetzten Gebieten konnten die Frühjahrskulturen meist angebaut und bewirtschaftet werden. Treibstoff und Dünger sind aber Mangelware. Die Kornkammer Europas werden wir nicht mehr sein, viele Exporte wurden storniert. Wir konzentrieren uns dieses Jahr auf die Inlandsversorgung.

Was dieser Artikel noch bietet

  • Wie die Situation für die Landwirtschaft in den besetzten Gebieten aussieht.
  • Wie es tierhaltenden Betrieben geht.
  • Wie die ukrainische Regierung die Lebensmittelsicherheit einschätzt.
  • Was sich Anna Nazarenko von der Zukunft erhofft.

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