Management„Der Verbraucher muss zwangsläufig von der heutigen Realität geschockt sein“

„Der Verbraucher muss zwangsläufig von der heutigen Realität geschockt sein“

Ein Interview von LANDWIRT Redakteurin Katharina FOHRINGER

LANDWIRT: Warum kritisiert die Gesellschaft die moderne Tierhaltung immer stärker? Geht es uns zu gut?

Ulrich Nöhle: Ja, wir leben in einer medial sich täglich inszenierenden Überflussgesellschaft. Wir sind so reich wie nie und es geht uns so gut wie nie. Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 150 Jahren verdoppelt und wir sterben nicht mehr an Unterernährung oder Infektionskrankheiten, sondern dämmern mit 84 Jahren mehr oder minder selig dement hinüber. Wir haben vor allem eines: Zeit, uns aufzuregen. In den 1950er-Jahren betrug die tägliche Arbeitszeit zwölf Stunden, es gab zwei Wochen Urlaub und wir gaben 47 % des verfügbaren Nettoeinkommens für Lebensmittel aus. Der Tante-Emma-Laden führte 200 Artikel. Heute arbeiten wir 7,5 Stunden pro Tag, haben effektiv sechs Wochen Urlaub und geben nur noch 11 % des verfügbaren Nettoeinkommens für Lebensmittel aus. Ein großer Supermarkt führt 32.000 Artikel. Ja, es geht uns unglaublich gut. Da nehme ich mir schon mal die Freiheit, mich über alles aufzuregen, denn es gibt ja genug von allem. Wir haben uns in diesem Überfluss so weit von der Realität entfernt, dass die meisten Verbraucher nicht mehr in der Lage sind oder auch kein Interesse mehr daran haben, sich mit der Realität der Lebensmittelerzeugung auseinanderzusetzen. Wozu denn auch, es ist ja alles da.

In der Werbung läuft ein sprechendes Ferkel herum. Schrecken reale Bilder den Konsumenten ab?

Ja, zweifellos. Unser Wohlstand führt auch zu einer doppelten Moral in der Beurteilung unseres Umfeldes. Fleisch essen: Ja gerne. Tiere schlachten: Oh Gott – das geht doch nicht! In den 1950ern hatten die meisten Verbraucher noch eine Beziehung zum Nutztier. Sie haben es gesehen und wussten, dass es geschlachtet wird, um etwas zu essen zu haben. Heute sind die hochveredelten Teile des Tieres hygienisch fertig verpackt – das dazugehörende Tier? Wo sind denn hier Tiere?

Ist den die Realität in der konventionellen Tierhaltung Konsumenten überhaupt zumutbar?

In der Welt der doppelten Moral: nein. Die Branche hat es 40 Jahre lang verabsäumt, den Verbraucher in die Realität der Lebensmittelerzeugung mitzunehmen. Werbung läuft immer noch mit der Alm-Idylle oder dem Fachwerkbauernhof. Der Verbraucher muss zwangsläufig von der heutigen Realität geschockt sein. Die Automobilindustrie hat es anders gemacht. Jedes Jahr wurde das neueste Modell mit allertollsten technischen Features beworben…und gekauft. Bestes Beispiel ist Audi mit dem Slogan „Vorsprung durch Technik“. Man stelle sich vor, ein Lebensmittelhersteller würde werben mit „Vorsprung durch Technik“.

Wie sollen wir Schweinefleisch bewerben?

Zunächst einmal muss die Lebensmittelwirtschaft ganz einfach einmal den Stand der Technik beschreiben. Bis zu 3.000 Sauen befinden sich in einem Stall und nicht mehr 20. Die Wurfgröße beträgt 15 und nicht mehr zehn. Die Ferkelverlustrate beträgt 14,5 % und ist deutlich geringer als in den 1950ern, weil wir die Tiere behandeln. Ähnliches gilt für die Geflügelaufzucht und die Milcherzeugung. Wir halten Tiere, um sie zu essen. Und wer Fleisch essen will, muss Tiere töten. Gleichzeitig müssen wir aber dringend an der kontinuierlichen Verbesserung der Haltungssysteme arbeiten, denn die Umstände, unter denen wir Tiere halten, sind sicherlich nicht optimal und vom Verbraucher auch nicht einsehbar. Nur wenn wir den Stand der Technik kommunizieren und gleichzeitig die Rahmenbedingungen deutlich verbessern, werden wir zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung kommen, die dann auch so beworben werden kann.

Was erwartet der Konsument von der Tierhaltung?

Am liebsten, dass alles so ist wie bei Oma: acht Schweine, zwölf Kühe, 22 Hühner und zwei Hähne. Alle leben draußen und man kann sie streicheln.

Interessiert es die schlecht verdienende Gesellschaftsschicht, die im Discounter einkauft, überhaupt, welche Wurst sie isst und wie sie produziert wird?

In der Regel nicht, weil sie auch kaum eine Alternative hat. Aber man darf nicht alle über einen Kamm scheren: auch Besserverdienende kaufen im Discounter ein. Dafür können sie dann sechsmal pro Jahr in Urlaub fahren oder sich den neuesten BMW leisten. Jeder hat eben seine Lebensstrategie.

„Wer nicht kommuniziert, der verdunkelt.“

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