RindMilchvieh„Das System Kuh ist anpassungsfähig“

„Das System Kuh ist anpassungsfähig“

Ob Haltung, Zucht oder Melktechnik – die Milchbranche entwickelt sich ständig weiter. Foto: Taferner

65 Milchexperten aus Österreich, Deutschland, Südtirol und der Schweiz folgten der Einladung der AFEMA, der Arbeitsgruppe zur Förderung von Eutergesundheit und Milchhygiene in den Alpenländern nach Bozen. Der Sennereiverband Südtirol organisierte die wissenschaftliche Tagung gemeinsam mit Prof. Matthias Gauly von der Fakultät für Naturwissenschaften und Technik der Freien Universität Bozen. AFEMA Vorstand Dr. Christian Baumgartner sagte bei seiner Begrüßung: „Momentan herrscht ein Ungleichgewicht zwischen dem, was Verbraucher wissen und dem, was Realität ist.“ Das bestätigte Prof. Christian Fischer von der Freien Universität Bozen in seinem Vortrag. Er zeigte, dass der Trinkmilchkonsum in den USA, dem größten Trinkmilchmarkt der Welt, von 150 auf 75 Liter pro Kopf und Jahr gesunken ist. Auch in Großbritannien, dem größten europäischen Trinkmilchmarkt, hat sich der Konsum halbiert. Er führt das auf die Konkurrenz durch pflanzliche Alternativen zurück. Von 2006 bis 2016 hat sich der Konsum pflanzlicher Ersatzprodukte verdoppelt. Während das Verhältnis von tierischer Milch zu pflanzlichen Ersatzprodukten im Jahr 2006 bei 60:1 lag, war es zehn Jahre später schon auf 30:1 gestiegen. Das bedeutet, dass im Jahr 2016 je 30 Liter Milch bereits ein Liter Ersatzprodukt konsumiert wurde. Dr. Gesa Busch von der Freien Universität Bozen erforschte Gründe, warum die Konsumenten den Alternativen zu Milch immer öfter den Vorzug geben.

Dr. Gesa Busch von der Freien Universität Bozen erforschte Gründe, warum die Konsumenten den Alternativen zu Milch immer öfter den Vorzug geben. Foto: Taferner

Anbindehaltung wird kritisch gesehen

Buschs Erhebungen zeigten, dass Information allein nicht zu mehr gesellschaftlicher Akzeptanz führt. Sie fordert eine ehrliche Kommunikation, die auf die Region bezogen ist. Dabei müssen Werbung und Realität übereinstimmen. Die Agrarökonomin belegte, dass unsere Wahrnehmung stark von persönlichen Erfahrungen geprägt wird. Sie sagt: „Was man öfter sieht, das wird als bekannt eingestuft.“ In einer Umfrage zeigte sich, dass den Kunden kleine Betriebsstrukturen und Weidegang sehr wichtig sind. Anbindehaltung, besonders dauernde Anbindehaltung, wird von jedem zweiten Kunden kritisch gesehen. Das ist auch dem Sennereiverband Südtirol bewusst, wenngleich noch viele Südtiroler Landwirte Anbindeställe betreiben. Direktorin Annemarie Kaser sagt dazu: „Mittelfristig wird es die andauernde Anbindehaltung nicht mehr geben, auch wenn es schwierig wird, dies im Berggebiet umzusetzen.“ Marketingexperte Maximilian Alber von IDM Südtirol sieht gerade in diesem scheinbaren Standortnachteil einen Vorteil, wenn Milchwirtschaft und Tourismus zusammenarbeiten.

 

Die Teilnehmer überzeugten sich selbst von der Qualität der regionalen Spezialitäten. Foto: Taferner

 

Regional ist das neue Bio

7,3 Millionen Touristen bereisten Südtirol im vergangenen Jahr. Er sagt: „Heute leben bereits 50 % der Bevölkerung in Städten, 2050 werden es 75 % sein. Damit steigt die Sehnsucht nach Natur.“ Diese Sehnsucht versucht die Marke „Südtirol – Alto Adige“ mit authentischen Geschichten und regionalen Produkten zu stillen. Eine Region und deren Produkte gehören für den Marketingexperten zusammen. Er fordert Produkte, die auch die Einheimischen mögen. „Das Image eines Produkts macht man im eigenen Land“, sagt Alber. Für ihn sind der Bauer und dessen Produkt die besten Botschafter einer Region. Dass diese Strategie erfolgreich ist, bestätigt Joachim Reinalter vom Sennereiverband Südtirol. „Italiener kaufen patriotisch. Sie kaufen Südtiroler Milch obwohl Konkurrenzprodukte teilweise 50 Cent günstiger sind“, sagt er. In den Pausen konnten sich die Tagungsteilnehmer selbst bei einer „gsundn und guatn“ Bäuerinnen Brotzeit von der Qualität  der Südtiroler Produkte ein Bild machen.

Rinderzucht im Wandel

Änderungen in der Milchbranche betreffen nicht nur die Märkte und das Marketing. Auf der Seite der Produktion gibt es enorme Weiterentwicklungen. Prof. Johann Sölkner von der Universität für Bodenkultur Wien erläuterte, dass es in den letzen 60 Jahren gleich viel Zuchtfortschritt gemessen in Kilogramm Milch gab, wie in den 5.000 Jahren davor. In den letzten Jahren etablierte sich die genomische Selektion in der  Rinderzucht. Der Genetiker erklärte, dass bereits jede zweite künstliche Besamung mit einem genomisch selektierten Jungstier erfolgt. „Gerade bei der genomischen Selektion haben funktionale Merkmale einen hohen Stellenwert. Ich bin mir sicher, dass die Kuh in dreißig Jahren eine andere ist, als die von heute. Denn größere Kühe sind nicht effizienter“, sagt Sölkner. Damit meint er, dass neben den Milch- und Fleischleistungen auch Fitness, Vitalität und Nutzungsdauer in der Zuchtauswahl eine Rolle spielen. Diese zusätzlichen Merkmale sollen einerseits die Wirtschaftlichkeit erhöhen, tragen andererseits auch zu einer besseren Tiergesundheit bei.

Weniger kann mehr sein

Was für die Zucht gilt, gilt auch für die Betriebsform. Um jeden Preis mehr Milch zu produzieren ist längst nicht mehr das Betriebsziel aller Landwirte. Neben den Hochleistungsbetrieben findet die Low-Input-Strategie immer mehr Anhänger. Sie versuchen Kosten zu reduzieren statt die Erträge zu maximieren. Dr. Sarah Kühl von der Freien Universität Bozen stellte einen Vergleich zwischen 64 intensiv und extensiv wirtschaftenden Grauvieh- und Braunviehbetrieben in Südtirol an. Es zeigte sich, dass grundfutterbasierte Fütterung mit Weidehaltung zu deutlich geringeren Tierarztkosten führt. Andererseits wurde ersichtlich, dass mit steigender Anzahl an Weidetagen der Betriebsgewinn sinkt. Das war besonders auf extensiv wirtschaftenden Grauviehbetrieben zu beobachten, obwohl es für die Haltung dieser Rasse eine Prämie gibt. Kühl sagt: „Der Erhalt der extensiv wirtschaftenden Betriebe hat eine positive Auswirkung auf die Kulturlandschaft.“ Um die wirtschaftlichen Nachteile dieser Betriebe zu kompensieren und einer Intensivierung vorzubeugen, seien Förderungen oder Prämien unverzichtbar.

Prof. Rupert Bruckmaier von der Universität Bern erläuterte, worauf es ankommt, wenn die Kuh auf die Melkmaschine trifft. Foto: Taferner

Richtig melken

Euterschonend zu melken ist sowohl für die Tiergesundheit als auch für die Wirtschaftlichkeit von Milchbetrieben bedeutsam. Darum erläuterte Prof. Rupert Bruckmaier von der Universität Bern, worauf es ankommt, wenn die Kuh auf die Melkmaschine trifft. Mit Ultraschallvideos machte er die Vorgänge im Euter im Vortragssaal sichtbar. Das nur 20 % der Milchmenge in der Zisterne frei verfügbar ist, müssen 80 % davon erst durch Oxytocin freigesetzt werden. Dieses Hormon wird von der Kuh bei Zitzenberührung ausgeschüttet und ist dafür verantwortlich, dass die Milch einschießt. Bei Melkintervallen von acht Stunden, dauert es etwa eine Minute bis die Milch einschießt und damit Blindmelken verhindert wird. Er rät dazu, dass zwischen dem Anrüsten und dem Ansetzen des Zitzenbechers nicht mehr als eine Minute verstreichen sollte. „Ist das Euter nur zu 20 % gefüllt, wie es bei zu kurzen Melkintervallen in Roboterbetrieben für niedrigleistende Kühe der Fall sein kann, kann es auch zwei bis drei Minuten dauern, bis die Milch einschießt“, erklärt der Veterinärphysiologe. Dr. Jan Harms von der LfL Bayern bestätigt, dass kurze Zwischenmelkzeiten in Roboterbetrieben problematisch sind. Neben der unnötigen Belastung des Eutergewebes kommt es auch zu einem Anstieg an freien Fettsäuren in der Milch. Das ist auch ein Grund, warum manche Heumilchmolkereien und Hartkäsehersteller Robotermilch nicht annehmen wollen. Harms bedauert das, denn gerade Roboterbetriebe seien Zukunftsbetriebe. Bei Zwischenmelkzeiten von acht bis zehn Stunden gäbe es kein Problem mit freien Fettsäuren. Der Experte sagt: „Das ist nur eine Sache der richtigen Robotereinstellung. Es braucht lediglich eine kuhindividuelle Anpassung der Melkberechtigung.“

Herausforderung Trockenstellen

Das Trockenstellen von Milchkühen rückte mit der Diskussion über Antibiotikaresistenz in den Mittelpunkt der Gesellschaft. Selektives Trockenstellen entwickelt sich immer mehr zur Methode der Wahl. Dr. Alex Tavella vom Institut für Tierseuchenbekämpfung Bozen stellte das Projekt MIC vor, das eine interaktive Berichterstattung zur bakteriellen Sensitivität gegenüber Antibiotika ermöglicht. Er erklärt: „Das ist eine Liste von antimikrobiellen Wirkstoffen, wo der Tierarzt sehen kann, welcher Stamm auf welchen Wirkstoff gut reagiert. Damit können Antibiotika gezielter eingesetzt werden.“ Diese Daten sind öffentlich zugänglich und sollen auch Pharmafirmen bei der Weiterentwicklung der Medikamente helfen. Ulrich Blau von der Universität Bern beschäftigte sich in seiner Arbeit mit einem anderen Aspekt des Trockenstellens: dem Euterinnendruck. Werden Kühe nicht gemolken, erhöht sich zunächst der Euterinnendruck. Messungen ergaben, dass eine unmittelbare Futterumstellung (Kraftfutter aussetzen) nach der letzten Melkung die Dauer eines erhöhten Euterinnendrucks verkürzt. Das steigert das Wohlbefinden der Kuh und kann helfen, die somatische Zellzahl geringer zu halten. Dr. Josef Gross von der Universität Bern gibt zu bedenken, dass  erhöhte Zellzahlen auf eine Reaktion des Immunsystems hindeuten. Darum rät er zu besonderer Vorsicht: „Wenn wir auf geringe Zellzahlen züchten, bringt das auch ein niedriges Immunsystem mit sich.“ Zellzahlen unter 50.000 oder über 200.000 deuten auf Schwächen im Immunsystem hin. Kühe brauchen jedoch ein starkes Immunsystem um sich gegen Krankheitserreger wehren zu können. Er mahnt: „Auch das Immunsystem braucht Energie.“ Darum sollten Sie vor allem rund um die Geburt, in der Frühlaktation und beim Trockenstellen leistungsangepasst füttern. Er rät zum leistungsabhängigen Besamen: „Es ist doch nicht notwendig eine Kuh mit 40 Liter Tagesgemelk trocken zu stellen. Besamen Sie solche lieber später oder reduzieren Sie die Trockenstehzeit auf fünf Wochen.“ Bei Hochleistungsbetrieben seien Zwischekalbezeiten von 400 bis 450 Tagen durchaus üblich. Zudem sei der Besamungserfolg in diesen Betrieben zum Teil höher, wenn erst 100 Tage nach der Geburt besamt würde, weil die Kuh in einer besseren Stoffwechselsituation ist.

AFEMA Vorstand Dr. Christian Baumgartner fordert die Milchbranche auf, die Erwartungen mit Faktenwissen auszubalancieren. Foto: Taferner

Zellzahlentwicklung vorhersagen

Zum Abschluss der Tagung gab Dr. Eva Gaß vom Deutschen Verband für Leistungs- und Qualitätsprüfungen einen Einblick in die Prognose der Eutergesundheit. Ziel des Projekts ZellDix ist es, einen Monat im Voraus vorherzusagen, wie sich die Eutergesundheit einer Kuh entwickeln wird. Das soll über Zelldifferenzierung möglich werden. In Deutschland sind bereits drei Geräte im Einsatz, die zwischen Makrophagen und anderen Zellen in der Milch unterscheiden können. „Makrophagen sind die Wächter im Euter“, erklärt sie. Bei Kühen mit stabilem Immunsystem ließen sich demnach viele Makrophagen finden. Damit lässt sich eine Liste der Tiere erstellen, die ein erhöhtes Risiko für eine Zellzahlsteigerung haben. Gaß sagt: „Zelldifferenzierung kann ein Managementwerkzeug für Landwirte sein, bietet aber keine zusätzliche Information über die Milchqualität.“

Abschließend fasste AFEMA Vorstand Dr. Christian Baumgartner zusammen: „Das Ende der Kuhhaltung droht noch lange nicht. Das System Kuh ist anpassungsfähig. Es liegt an der Milchbranche die Erwartungen mit Faktenwissen auszubalancieren.“ Die nächste wissenschaftliche Tagung der AFEMA findet 2021 voraussichtlich im Allgäu statt.

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