Anfang der 1980er-Jahre hatte das Selbstgemachte keinen großen Wert. Ich war damals unterwegs zu einer Betriebsreportage auf einen landwirtschaftlichen Betrieb. Es war ein heißer, schwüler Sommertag.
Nach der Betriebsbesichtigung sitze ich später mit der Familie auf der Bank im Schatten eines Birnbaumes, bekomme noch Fragen beantwortet und mache Notizen. Die Nachmittagsschwüle ist noch feuchter geworden und drückt uns den Schweiß aus allen Poren.
Der Bauer nimmt einen kräftigen Schluck Most, was ich jedoch aus fahrtechnischen Gründen leider ablehnen muss. Ich möchte nur ein Glas Wasser. Aber der Bäuerin ist das zu wenig. Sie meint es gut mit mir und fragt mich, ob ich nicht ein Glas Apfelsaft möchte. Mit „Nein, bitte keinen Apfelsaft, den vertrage ich nicht“, lehne ich das freundliche Angebot ab. Das will die Bäuerin so nicht hinnehmen und erklärt mir stolz: „ Das ist eh kein selbstgemachter, das ist ein gekaufter Apfelsaft, den können‘s ruhig trinken.“
Arme-Leute-Image
Nur ein Glas Wasser zu geben, wäre der Bäuerin schäbig und geizig vorgekommen. Es hätte sie beschämt. Gastfreundschaft hat am Land eine große Bedeutung. Selbstgemachtes und Regionales hatte keinen besonderen Wert. Das Selbstgemachte hatte damals noch ein Arme-Leute-Image.
Diese Jahre waren damals Zeiten des Aufbruchs. Nicht das Bekannte und Naheliegende hatte Bedeutung, sondern das Ferne, noch Fremde. Je weiter weg, je exotischer, desto moderner und damit in der allgemeinen Wertehierarchie auch wertvoller.
Wohlstand zeigte sich auch darin, nicht mehr alles selber machen zu müssen. Es sich leisten zu können, Dinge zu zukaufen. Nicht mehr alles selber machen zu müssen, wurde – gerade auch in der Landwirtschaft – gleichsam als ein Akt der Befreiung empfunden. Endlich bestand die Möglichkeit, sich einen kleinen Freiraum zu schaffen.
Am Gekauften klebte die Aura des Besonderen und des Fortschrittes. Wer nicht mehr alles selbst herstellen und machen musste, war auf dem Weg nach oben. Es war ein Zeichen für: Es geht aufwärts. Zudem passte es perfekt zu den Vorgaben der Ökonomie der verstärkten Arbeitsteilung, der Spezialisierung.
Meine Bäuerin empfand sich also zu Recht als eine durchaus moderne, zukunftssichere Frau ihrer Zeit als sie mir den Apfelsaft anbot und die Besonderheit herausstrich, dass es ein gekauftes Produkt sei und kein selbstgemachtes. Damit signalisierte sie, wir sind modern, fortschrittlich und erfolgreich.
Selbstgemachtes hat Bedeutung
Viele Jahre später war ich wieder in der gleichen Gegend unterwegs, diesmal zu einem Obstbaubetrieb. Die Tochter hatte kurz zuvor den Hof übernommen. Ihr Mann hatte seinen Beruf als Tischler aufgegeben und half bei der Selbstvermarktung der eigenen Spezialitäten.
Als ich mich bei der jungen Betriebsführerin verabschiedete, drückte sie mir ein Glas Marmelade in die Hand. „Das müssen Sie unbedingt kosten. Selbstgemachte Heidelbeermarmelade aus dem eigenen Heidelbeergarten. Wenn es Ihnen schmeckt, können Sie es gerne online bei mir bestellen.“
Selbstbewusst überreichte sie mir das mit eigenem Logo gekennzeichnete Glas. Sie war überzeugt und stolz auf ihre Erzeugnisse. Ihre Produkte zeigten ihr Können und ihre Kreativität. Sie schufen ein Selbstwertgefühl und gaben eine Ahnung davon, was man aus den Erzeugnissen ihres Hofes alles herstellen konnte.
Das ist die neue Botschaft, die Werteverschiebungen gegenüber früher. Wer ständig ausgedünnt wird, muss lernen sich zu behaupten und seine Fähigkeiten und Spezialitäten in die Auslage stellen.
Selbstgemachtes und Co haben Karriere gemacht. Sie sind echte Stars der Regionen geworden und bringen ihren Herstellern Wertschöpfung und der gesamten Landwirtschaft ein positives Image.
Sie wollen uns Ihre Meinung zum Thema sagen? Schreiben Sie uns:
hans.meister@landwirt-media.com, Tel.: 0316/821636-145, Fax: DW 151
Kommentare