LandkalenderCider produzieren: Eine Reise in den Südenwesten Englands

Cider produzieren: Eine Reise in den Südenwesten Englands

Roger Wilkins macht Cider, wie er früher einmal war, nach den Rezepten des Großvaters.
Quelle: Jacob

Im Jänner gibt es im südwestenglischen Somerset die Tradition, die Apfelbäume für das neue Jahr “aufzuwecken”. In der Region Somerset sind das vor allem Äpfel für die Produktion von Cider – ein Getränk dem Apfelwein ähnlich, von dem die Briten mehr trinken als jedes andere Volk auf der Welt. Bauern und Bürger kommen zusammen, begießen die Baumwurzeln mit Cider – damit der „Lebenssaft“ von Jahr zu Jahr weitergegeben wird – und machen viel Lärm und Krach, um böse Geister zu vertreiben. Sie trinken – natürlich mit Cider – auf das Wohl des Baumes und auf ein gutes neues Apfelanbaujahr.

Das Fruchtfleisch von Cider-Äpfeln besitzt eine faserige, holzige Struktur, wodurch die Saftpressung erleichtert wird.
Quelle: Jacob

Cider am Ende der Welt

Noch bis weit in den Dezember werden die Äpfel eingebracht. Das geschieht maschinell mit einem speziellen Gerät, das von einem Traktor durch die Apfelplantagen gezogen wird und die Äpfel, die so spät im Jahr natürlich inzwischen am Boden liegen, aufsammelt. Cider-Äpfel unterscheiden sich nicht nur rein geschmacklich von Tafeläpfeln: Ihr Fruchtfleisch besitzt eine faserige, holzige Struktur, was die Saftpressung erleichtert. Zudem haben sie meist einen hohen Gehalt an Tannin. Das verleiht dem Cider seine typisch goldene Farbe und einen etwas bitteren Geschmack. Zum Vergleich schmeckt deutscher Most oder Apfelwein meist sehr viel saurer, da britische Cider-Äpfel einen geringeren Säureanteil haben. „Wenn du in einen Cider-Apfel beißen würdest, würdest du ihn sofort wieder ausspucken. Erst gepresst und vergoren entfalten die Äpfel ihr Potenzial“, verrät Cider-Winzer Roger Wilkins. Wer zu ihm auf den Hof kommen – besser „ihn finden“ – will, der muss bis ans Ende der Welt reisen. Lands End Farm, so heißt auch sein Anwesen. Es liegt versteckt zwischen Hügeln und Apfelplantagen am Ende einer schmalen Nebenstraße unweit von Wedmore im Herzen der Region Somerset. Doch es lohnt sich. Der Besucher fühlt sich der hektischen Welt entrückt, an einen Ort versetzt, wo man noch Zeit hat. Ob zum Plaudern oder für den Genuss eines „guten und sauberen“ Glas Cider, wie es hier heißt. Zum Probieren wird immer „ein halber Pint“ (284 ml) gereicht, danach kostet jedes weitere Glas nur 1,50 Pfund (1,77 Euro). In einer großen Scheune – zwischen einer altertümlichen Apfelpresse und Eichenfässern – sitzen Cider trinkende Männer um einen großen alten Rundtisch, die Lokalzeitung liegt aus. Gleich daneben wird gearbeitet: Der Traktor fährt eine neue Ladung Äpfel vor. Die Äpfel werden gewaschen, zerkleinert, von zwei Männern auf porösen Matten verteilt, die wiederum auf Holzlatten liegen; nach zehn Schichten übereinander wird der Stapel unter eine Presse geschoben, die daraus goldgelben Apfelsaft quetscht. Der unpasteurisierte Saft fermentiert und reift später in Eichenfässern zu einem sogenannten ‘Farmhouse Cider’. Es war Rogers Großvater, der hier vor über hundert Jahren mit der Herstellung von Cider begann; als er 1969 starb, übernahm Roger die Ciderproduktion.

Ciderproduktion seit 1230

Die Herstellung von Cider hat in Somerset eine lange Tradition. Die erste urkundliche Erwähnung von Ciderproduktion als Einnahmequelle stammt aus dem Jahr 1230 in einer königlichen Urkunde an den Bischof von Bath. Cider war viele Jahre vitaminreiches Getränk auf Schiffsreisen, um Skorbut vorzubeugen, und bis weit ins 19. Jahrhundert wurde ein Teil des Arbeitslohns in Form von Cider ausbezahlt. Weltweit produziert Frankreich den meisten Cider, doch kein Land trinkt mehr Cider pro Kopf als die Briten. Die Region Somerset ist ideal für die Ciderproduktion. Da ist das milde Klima, „keine richtigen Winter“, wie Roger es nennt, die stetigen Regenfälle, der Boden und an die 500 verschiedene Apfelsorten. „Ich lerne immer noch dazu”, gesteht der heute 76-Jährige, der seit 54 Jahren im Geschäft ist. Roger zeigt Richtung Apfelpresse – das dort sei sein 26-jähriger Enkelsohn Richard, der einmal das Cider-Geschäft übernehmen will. Doch Roger denkt noch lange nicht ans Aufhören. Cider ist seine Medizin, wie er mit einem Augenzwinkern verrät. Mit zehn Jahren trank er ihn zum ersten Mal und um zehn Uhr morgens trinkt er das erste von insgesamt zehn Gläsern am Tag.

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Cider und Landwirtschaft

Über die Region Somerset verteilen sich kleine und große Ciderhersteller. Mallets Cider in Shepton Mallet im Herzen Somersets besitzt die „modernste und effizienteste Ciderproduktion der Welt“, wie es heißt, und jedes Jahr werden 40.000 t Äpfel zu rund 136 Mio. l Cider verarbeitet. Thatcher’s Cider in Sandford im nördlichen Somerset gibt es seit 1904. Der Familienbetrieb gehört zu den führenden mittelständischen Ciderherstellern Englands. „Thatcher’s Gold“ ist der im Vereinigten Königreich meistverkaufte Cider vom Fass. Wie in Deutschland das Bier, kommt in britischen Gaststätten der Cider oft aus dem Zapfhahn. Weit über die Grenzen Englands hinaus bekannt ist Sheppy’s Cider. Seit fast 200 Jahren arbeitet Familie Sheppy auf ihrem Hof unterhalb der Kleinstadt Taunton. Berühmt ist Sheppy’s für seine interessanten Kreationen wie Cider mit Holunderblüten oder Himbeeren. Die gibt es auch im schönen und gut bestückten Hofladen zu kaufen. Besucher dürfen über den Hof und durch die Apfelplantagen spazieren, vorbei an einem dieser für die Ciderproduktion im großen Stil typischen schwarzen Holzsilos, in dem der Cider reift. Ursprünglich war Ciderproduktion eine Nebenbeschäftigung der Landwirte. Heute ist die Landwirtschaft eine Nebenbeschäftigung des Cidergeschäftes. Bei Sheppy’s gehören einige Longhorn-Rinder und Suffolk-Schafe zum Betrieb, das Fleisch wird im Hofladen verkauft.

Cider und Brandy

Auch auf der Burrow Hill Farm der Familie Temperley – 35 Kilometer in östlicher Richtung – gehören Schafe zum Betrieb. Sie grasen zwischen den Apfelbäumen, halten das Gras kurz und fressen die Äpfel, die nach der Ernte liegen bleiben. Im Hofladen kann man sich aus 170 Jahre alten Eichenfässern auf dem Hof produzierten Cider abzapfen lassen oder Kartoffelchips mit Burrow- Hill-Cider-Geschmack einkaufen. Doch vor allem kommt man wegen einer britischen Kostbarkeit hierher. Julian Temperley ist der Pionier der britischen Cider-Brandy-Szene. 1987 begann er mit dem Destillieren seines Ciders für die Herstellung von Brandy, der in Eichenfässern zwischen sechs Monaten und 20 Jahren heranreift. Der Betrieb wirkt etwas schäbig und aus der Zeit gefallen, doch gerade das macht seinen Charme aus. Der Brandy von hier ist in den besten Restaurants Londons und bei Festivitäten britischer Botschaften weltweit zu finden, und wurde auf der Hochzeit von Prinz Harry ausgeschenkt. Ein königlich gefülltes Portemonnaie ist beim Einkaufen im Hofladen dienlich. 100 ml des 20 Jahre alten Brandys kosten bereits 24 Pfund (27 Euro). Unterwegs in Somerset sieht man immer wieder handgemalte Schilder, die auf „Cider“ oder eine „Cider Farm“ hinweisen. So geht es 30 Autominuten in nordöstlicher Richtung zu Heck’s Cider.

Der hohe Tanningehalt verleiht dem Cider seine typisch goldene Farbe und einen etwas bitteren Geschmack.
Quelle: Jacob

Apfelernte bis Februar

Familie Heck produziert hier seit 1841 traditionellen Farmhouse Cider aus eigenen Äpfeln. Der frisch gepresste Saft fermentiert in 100 Jahre alten Eichenfässern und wird als Cider vom Fass verkauft. Mit Andrew Heck steht die 6. Generation des Familienbetriebs am Zapfhahn und befüllt einen Becher zum Probieren. Den Cider aus dem Fass gibt es in den Geschmacksrichtungen trocken, mittel oder süß. Wie bereits bei Roger Wilkins und Julian Temperley wird auch hier der Cider nach den Wünschen des Kunden gemischt. Bei Heck’s gibt‘s zudem Cider aus nur einer Apfelsorte oder in Flaschen abgefüllt. Die Lieblingsapfelsorte von Andrew Heck ist „Porters Perfection“, wie er verrät. Daraus lasse sich ein großartiger Cider herstellen und die Äpfel können bis in den Februar geerntet werden. Zurück bei Roger Wilkins – 20 Autominuten nordwestlich von Heck’s – ist die Stimmung gut. Die letzten Äpfel sind gepresst und er hat Apfelglühwein angerührt. Bis zu 200 Besucher kommen zurzeit jeden Tag auf seinen Hof, erzählt er. „Solange die Krise anhält, werden es sicher noch mehr. In den Gaststätten kann sich ein Arbeiter doch bald kein Glas Cider mehr leisten, so teuer ist es geworden.“ Ab Hof verkauft Wilkins derzeit jährlich rund 200.000 l Cider. Großzügig befüllt er die Gläser seiner Gäste und hebt an: „Cheers – zum Wohl, auf ein neues gutes Cider-Jahr.“

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